Immer wieder werde ich von Scrum-Anwendern gefragt, welche Scrum-Zertifizierung denn "die richtige" sei. Um diese Frage ausführlich zu erörtern, habe ich den Blogbeitrag geschrieben, den Sie gerade lesen.
1) Man braucht keine Zertifizierung, um ein Thema zu beherrschen. Fähigkeiten belegt ein Zertifikat selten, sondern immer nur den durch das Zertifikat abgeprüften Kenntnisstand zum Zeitpunkt des Erwerbs. Nur weil also jemand ein Zertifikat mitbringt heißt das noch lange nicht, dass er für die vor ihm liegende Aufgabe geeignet ist. Man denke nur an sein eigenes Diplom, das Abiturzeugnis oder die Führerscheinprüfung: Würden Sie heute noch alle Fragen beantworten können, die Sie damals erfolgreich beantwortet haben? Wieviel hat Ihnen Ihr Studium für den Berufsstart geholfen? Bei mir konnte ich schätzungsweise 10% des Erlernten anwenden - den Rest hat mir erst der Job selbst vermittelt...
2) Es gibt drei mir bekannte weltweite Organisationen, deren Scrum-Zertifikate erwähnenswert sind: PMI, Scrumalliance und Scrum.org
2.1) Das PMI-Agile Zertifikat läuft derzeit in der Pilotphase. Diese wird - laut Webseite - im November abgeschlossen sein. Daher ist eine Aussage über die Qualität der Zertifizierung derzeit noch nicht möglich (zumal ich selbst die Prüfung nicht abgelegt habe). Bemerkenswert ist jedoch, dass ein Kandidat 2.000 Stunden "General Project Management Experience" nachweisen muss. Meiner Erfahrung nach ist ein guter "klassischer" Projektmanager aber noch lang kein guter ScrumMaster oder Product Owner.
2.2) Die Scrumalliance zertifiziert die Teilnahme an ihren Kursen. Die Zertifikate bedeuten genau das: Jemand hat den dazugehörigen Kurs besucht. Zwar gibt es (zumindest beim Certified Scrum Master-Kurs) auch einen Multiple-Choice-Test. Dieser ist jedoch sehr einfach und es spielt keine Rolle, wie viele Fragen man richtig oder falsch beantwortet. Das Zertifikat gibt es trotzdem. Ich habe mir den Spaß gemacht und die Prüfung durchgespielt. Besonders hat mich dabei beeindruckt, dass man nach Beantwortung der Fragen sofort angezeigt bekommt, ob man richtig oder falsch lag und für weiterführende Studien auf Quellen verwiesen wird, die allesamt nicht bei der scrumalliance liegen: Scrum.org, Mountain Goat Software, usw. Die Prüfung kann man normalerweise nur dann machen, wenn man einen CSM-Kurs besucht hat.
2.3) Bei der Scrum.org muss man richtig schwitzen. Die Prüfungen dort sind schwer bis sehr schwer und werden ebenfalls online abgelegt. Um ein "Professional Scrum Master I" zu werden, muss man keinen Kurs besucht haben (gilt nur für die ScrumMaster-Laufbahn, für PO und Teammitglieder sind die Kurse verpflichtend), sondern kann für 100 $ pro Versuch loslegen. 80 Multiple-Choice-Fragen und eine Stunde stehen dann zwischen dem Prüfling und dem Zertifikat. Um zu bestehen, muss man 85% der Punkte erreichen. Will man später Trainer werden, müssen es mindestens 95% sein. Etwa 80% der Prüflinge sind erfolgreich, der Rest fällt durch.
Hat man die PSM I-Zertifizierung erhalten, darf man sich am PSM II versuchen. Die kostet 500 $ (300 $ für alle, die einen PSM-Kurs besucht haben) pro Versuch, dauert 2 Stunden und besteht aus Multiple-Choice und Essay-Fragen. Auch hier hat man mit 85% bestanden (95% für die Trainer-Laufbahn). Bisher (Stand heute) haben 59 Personen weltweit diese Zertifizierung erhalten. Einige davon nicht im ersten Anlauf. Die Hauptschwierigkeit ist hier, genau zu verstehen, was die Scrum.org von einem wissen will. Manchmal muss man zwischen den Zeilen lesen. Auch unschön ist, dass man (zumindest beim PSM I) hinterher nicht erfährt, welche Fragen man falsch beantwortet hat. So ist es schwierig, sich exakt auf die Prüfung vorzubereiten. Auswendiglernen oder präzises "Fragen lernen" geht also nicht. Im Gegensatz zu PMI und Scrumalliance muss man seine Zertifizierung nicht alle 2 Jahre erneuern. Es entstehen also nur Einmalkosten.
3) Welches Zertifikat für wen? Zunächst ein paar allgemeine Hinweise: Wer ein Zertifikat haben möchte, sollte sich gut überlegen, was er damit "beweisen" will. Geht es ihm darum, die Anwesenheit in einem Kurs zu belegen, bieten alle Anbieter gute Möglichkeiten. Hat der Kandidat bereits eine PMI-Zertifizierung, könnte sich das "PMI Agile" lohnen. Soll Fachkenntnis nachgewiesen werden (zumindest zum Zeitpunkt X des Zertifikats), dann ist aktuell nur die Scrum.org eine Alternative. Hier hilft es auch, dass jeder die Prüfungen machen kann und 100$ noch tragbar sind.
3.1) Teammitglieder (Coder, Tester, usw.): In der Regel sind hier fachliche Qualifikationen viel wichtiger, als Prozesswissen. Es ist also fraglich, ob überhaupt eine Scrumzertifizierung nötig ist. Falls ja bieten die Scrumalliance und die Scrum.org entsprechende Kurse mit Zertifikat an. Bei der Scrum.org ist dabei das Programm (auch für die anderen Kurse) "streamlined", also weltweit überall gleich, dauert dafür aber auch 5 Tage. Sowohl die Scrum.org als auch die Scrumalliance vermitteln fachliche Fähigkeiten und Scrumwissen.
3.2) Product Owner: Ein ScrumMaster-Kurs ist eigentlich ungeeignet, da die Aufgabe des POs der Return on Invest (ROI) und nicht der Scrum-Flow ist. Daher ist eher ein PO-Kurs zu empfehlen - mit den dazu gehörigen Zertifikaten. PMI scheidet hier aus.
3.3) ScrumMaster: Wer schon Erfahrungen hat und glaubt, eine Prüfung bestehen zu können, der ist bei der Scrum.org gut aufgehoben. Wer keine Prüfung ablegen möchte, sollte sich eher Richtung Scrumalliance orientieren. IMHO ist das PSM II derzeit das einzige Zertifikat am Markt, mit dem man als ScrumMaster ein Alleinstellungsmerkmal erzielt.
Nach wie vor glaube ich nicht, dass man ein Zertifikat braucht, um ein guter ScrumMaster zu sein. Auch glaube ich nicht, dass ein Zertifikat viel "beweist". Trotzdem ist es ein tolles Gefühl, eines zu haben
Danke, Dominik, für die schöne Zusammenfassung. Inzwischen hat die Scrum-Alliance zum Glück etwas angezogen, was die Qualität der Tests betrifft und ist, glaube ich, auf einem besseren Weg.
"IMHO ist das PSM II derzeit das einzige Zertifikat am Markt, mit dem man als ScrumMaster ein Alleinstellungsmerkmal erzielt."
Ich würde den Certified Scrum Practitioner noch erwähnen. Meine Erfahrung ist, dass diejenigen, die CSP sind, doch wirklich eher diejenigen sind, die dem Thema leidenschaftlich gegenüber stehen und meist sehr kompetent sind (das ist meine Erfahrung). Vermutlich liegt das nicht unbedingt an der Zertfizierung selbst (es gibt keine Kurse dafür), sondern weil eben genau Zertifizierungen in der agilen Welt (och) nicht so eine Rolle spielen und wichtig sind wie in der traditionellen Welt. Wenn dann eben doch jemand sich die Arbeit macht, CSP zu werden, macht er das meist eher aus Interesse als aus Titelgründen.
Natürlich wird umgekehrt nicht unbedingt ein Schuh daraus: Es gibt viele, die auch ohne Zertfizierung sehr kompetent sind!
-=Stefan=-